Eine neue Langzeitstudie zeigt: Über 90 Prozent des Insekten-Biomasserückgangs gehen auf Artenverluste zurück. Das klingt abstrakt, hat aber sehr konkrete Konsequenzen.
Anfang Dezember 2025 landete eine Studie in meinem Feed, die mich nicht mehr losgelassen hat. Ein Team um Benjamin Wildermuth vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) hat elf Jahre lang Insekten und Spinnen in deutschen Grünlandflächen gezählt, bestimmt und gewogen. Das Ergebnis in Nature Ecology & Evolution: Die Biomasse schrumpft. Aber nicht, weil die verbliebenen Arten weniger Individuen haben. Sondern weil Arten verschwinden. Über 90 Prozent des Biomasserückgangs gehen auf Artenverluste zurück. Nicht fünfzig, nicht siebzig – über neunzig. Das ist keine Randnotiz. Das ist ein Paradigmenwechsel.
Die Daten stammen aus zwei Langzeitprojekten, dem Jena-Experiment und den Biodiversitäts-Exploratorien. Beide untersuchen Grünland, einmal unter kontrollierten Bedingungen, einmal unter realer Nutzung. In den ersten Jahren waren es vor allem größere, seltenere Arten, deren Verschwinden die Biomasse drückte. Zum Ende des Untersuchungszeitraums trugen alle Arten gleichermaßen zum Rückgang bei, egal ob groß oder klein, häufig oder selten. Die Gemeinschaften schrumpfen nicht nur, sie werden sich auch immer ähnlicher. Die Vielfalt der Beiträge zur Biomasse nimmt ab. Das System wird fragiler.
Dazu kommt ein konstruktiver Befund: Flächen mit hoher Pflanzenvielfalt und geringer Nutzungsintensität beherbergten größere und artenreichere Insektengemeinschaften. Die Biomasse verteilte sich dort auf viele verschiedene Arten. Vielfalt stabilisiert – das ist jetzt nicht nur Intuition, sondern durch Daten belegt.
Die Studie untersucht Arthropoden allgemein, nicht speziell Wildbienen. Aber die Mechanismen lassen sich übertragen, und andere Datenquellen zeigen parallele Muster. Fast die Hälfte der rund 600 deutschen Wildbienenarten ist bestandsgefährdet oder steht auf der Roten Liste. Auf der Schwäbischen Alb schrumpfte die Zahl der Nester der Gemeinen Furchenbiene (Lasioglossum calceatum) über 46 Jahre um 95 Prozent. In den Isar-Flussauen bei Dingolfing verschwanden drei Viertel aller Wildbienenarten innerhalb von zehn Jahren. Etwa 40 Arten gelten in Deutschland bereits als ausgestorben.
Was mich dabei besonders beschäftigt ist, dass viele Wildbienen hochspezialisiert sind. Rund ein Drittel sammelt Pollen nur an einer einzigen oder wenigen Pflanzenarten. Verschwindet die Nahrungspflanze, verschwindet die Biene. Und mit ihr die Kuckucksbienen, die bei ihr parasitieren. Das ist kein linearer Rückgang, das ist ein Dominoeffekt.
Die bundesweite Rote Liste der Wildbienen stammt aus 2011. Ist fast fünfzehn Jahre alt. Eine Aktualisierung wird vorbereitet, ist aber noch nicht erschienen. 2023 kam immerhin eine neue taxonomische Checkliste mit jetzt 604 Arten, aber eine Checkliste ist keine Gefährdungsanalyse. Wir diskutieren also über Insektensterben mit Instrumenten aus dem vorletzten Jahrzehnt. Das ist, als würde ein Arzt eine Diagnose auf Basis von Blutwerten von vor 15 Jahren stellen.
Einen Lichtblick liefert Baden-Württemberg. Im April 2025 erschien dort die aktualisierte Rote Liste der Wildbienen, die erste umfassende Neubewertung seit 25 Jahren, basierend auf über 300.000 Einzelnachweisen. Das Ergebnis ist ernüchternd. Der Anteil der vom Aussterben bedrohten Arten hat sich seit 2000 fast verdoppelt, von 8,3 auf 16,3 Prozent. Fast jede zweite Art gilt als gefährdet. Das sind keine Zahlen aus irgendeinem fernen Land. Das ist Baden-Württemberg. Und ich sehe keinen Grund anzunehmen, dass es hier in Rheinhessen oder anderen Bundesländern besser aussieht.
Die Wildermuth-Studie empfiehlt, Grünland zu diversifizieren und artenreiches Grünland zu erhalten. Eine Studie aus Berliner Gemeinschaftsgärten zeigt, dass höhere Pflanzenvielfalt und mehr Totholz zu mehr Wildbienenarten führen. Das bestätigt, was viele von euch längst praktizieren. Verschiedene Blühpflanzen mit gestaffelten Blühzeiten, Totholz an sonnigen Stellen, abgestorbene Stängel über Winter stehen lassen, offene Bodenstellen erhalten, späte Mahd, keine Pestizide. Die Forschung holt auf, was Praktiker schon wissen.
Für kommunale Flächen gilt Ähnliches, aber in größerem Maßstab. Verschiedene Habitattypen bieten komplementäre Ressourcen über die Saison. Manche Hummeln wechseln ihre Hauptpollenquelle von Gehölzen im Frühjahr zu Kräutern im Sommer. Das heißt, nicht nur Wiesen anlegen, auch Waldränder, Hecken und Brachen erhalten. Extensivierung der Grünlandnutzung wirkt. Und Vernetzung der Lebensräume ist entscheidend, denn isolierte Schutzgebiete reichen nicht.
Dass gezielte Maßnahmen wirken, zeigt Berlin. Auf speziell angelegten Blühflächen wurden dort 2024 insgesamt 178 Wildbienenarten nachgewiesen, fast 54 Prozent aller in der Stadt bekannten Arten. Darunter zwei als verschollen geltende Arten: die Kuckuckshummel Bombus barbutellus und die Blutbiene Sphecodes majalis. Wenn das in einer Großstadt funktioniert, funktioniert es auch anderswo.
Die Autoren selbst mahnen aber zur Vorsicht. Die Studie untersuchte lokale Arthropodengemeinschaften in Grünland gemäßigter Breiten. Ob sich die Ergebnisse eins zu eins auf Wildbienen übertragen lassen, ist noch offen. Auch die Ursachen für den Artenverlust wurden nicht direkt untersucht. Landnutzung, Pestizide, Klimawandel werden genannt, aber ihre relativen Beiträge bleiben unklar. Das ist keine Schwäche der Studie, sondern wissenschaftliche Redlichkeit. Und ein Hinweis, dass wir mehr Langzeitforschung speziell zu Wildbienen brauchen.
Die Wildermuth-Studie liefert einen wichtigen Baustein: Das Insektensterben ist nicht nur ein Mengenproblem, es ist ein Vielfaltsproblem. Wenn Arten verschwinden, bricht das System zusammen, nicht schleichend, sondern mit Wucht. Das bedeutet. das jede Maßnahme, die Vielfalt schafft und erhält, eine Maßnahme für die Biomasse ist. Und jede Art, die wir vor dem Verschwinden bewahren, stabilisiert das Netz, von dem wir alle abhängen.
Habt ihr Veränderungen bei den Wildbienen in euren Gärten beobachtet? Arten, die früher da waren und jetzt fehlen? Oder neue, die auftauchen? Schreibt mir, eure Beobachtungen sind wertvolle Daten.
—
Quellen
Wildermuth, B. et al. (2025): Arthropod species loss underpins biomass declines. Nature Ecology & Evolution. DOI: 10.1038/s41559-025-02909-y
Schwenninger, H.R. et al. (2024): Rote Liste und Verzeichnis der Wildbienen Baden-Württembergs. 4. Fassung. LUBW. Download: pd.lubw.de/10628
Westrich, P. et al. (2011): Rote Liste und Gesamtartenliste der Bienen Deutschlands. Naturschutz und Biologische Vielfalt 70(3): 373-416
Scheuchl, E. et al. (2023): Die Wildbienenarten Deutschlands. Anthophila 1: 25-138
Felderhoff, K. et al. (2023): Vegetation complexity and nesting resource availability predict bee diversity in community gardens. Ecological Applications 33(2): e2759
Maurer, C. et al. (2022): Different types of semi-natural habitat are required to sustain diverse wild bee communities. Journal of Applied Ecology 59(10): 2604-2614
Deutsche Wildtier Stiftung (2024): Ergebnisse der Wildbienenkartierung 2024. wildbiene.org
Heinrich-Böll-Stiftung (2020): Insektenatlas. Daten und Fakten über Nütz- und Schädlinge in der Landwirtschaft.









